juris PraxisReporte

Anmerkung zu:BFH 3. Senat, Urteil vom 20.02.2025 - III R 10/24
Autor:Dr. Sascha Bleschick, Vors. RiFG
Erscheinungsdatum:30.06.2025
Quelle:juris Logo
Normen:§ 1602 BGB, § 118 FGO, § 48 SGB 1, EStG, § 11 SGB 2, SGB 12, § 94 SGB 8, § 1612b BGB, § 32 EStG, § 33a EStG, § 74 EStG, § 76 EStG
Fundstelle:jurisPR-SteuerR 26/2025 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Peter Fischer, Vors. RiBFH a.D.
Prof. Dr. Franz Dötsch, Vors. RiBFH a.D.
Zitiervorschlag:Bleschick, jurisPR-SteuerR 26/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Keine Abzweigung bei fehlender Unterhaltsbedürftigkeit des volljährigen Kindes



Leitsätze

1. Kindergeld, das für ein volljähriges Kind zugunsten eines Elternteils festgesetzt worden ist, kann nicht an das Kind ausgezahlt werden, wenn das Kind aufgrund eigener Einkünfte oder Bezüge nicht unterhaltsbedürftig ist.
2. Eine analoge Anwendung des § 74 Abs. 1 EStG kommt bei fehlender Unterhaltsbedürftigkeit des Kindes mangels planwidriger Gesetzeslücke nicht in Betracht.



A.
Problemstellung
Die Entscheidung betrifft die grundlegende Frage, ob ein volljähriges Kind, das nicht unterhaltsbedürftig ist, gleichwohl im Wege der Abzweigung nach § 74 Abs. 1 EStG Anspruch auf Auszahlung des an einen Elternteil festgesetzten Kindergeldes haben kann.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
I. Anlass des Besprechungsurteils war ein Antrag des volljährigen Sohnes auf Auszahlung des Kindergeldes an sich selbst, dem die Familienkasse entsprach. Die Kindergeldberechtigte (Mutter) klagte nach erfolglosem Einspruchsverfahren gegen den Abzweigungsbescheid mit der Begründung, ihr Sohn sei infolge seiner Ausbildungsvergütung und eines Stipendiums in der Lage, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Die Klage hatte keinen Erfolg. Der BFH hob die Entscheidung des FG auf und gab der Klage der Mutter gegen die erfolgte Abzweigung statt.
II. Nach § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG und § 74 Abs. 1 Satz 3 a.F. (jetzt: § 74 Abs. 1 Satz 2 EStG) kann das für ein Kind festgesetzte Kindergeld an das Kind ausgezahlt werden, wenn der Kindergeldberechtigte diesem gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt, mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist oder nur Unterhalt in Höhe eines Betrags zu leisten braucht, der geringer ist als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld.
III. Der III. Senat des BFH hat entschieden, dass im Streitfall die Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 EStG a.F. (jetzt: § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 2 EStG) nicht erfüllt seien, da der Sohn der Klägerin nicht unterhaltsbedürftig gewesen sei. Es sei davon auszugehen, dass die Klägerin nicht unterhaltspflichtig gewesen sei. Zwar fehle es nicht an der Leistungsfähigkeit der Klägerin. Allerdings habe ihr Sohn aufgrund seiner Ausbildungsvergütung und eines steuerfreien Stipendiums seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten können.
Nach § 1602 Abs. 1 BGB sei nur unterhaltsberechtigt, wer außerstande sei, sich selbst zu unterhalten. Das FG habe – für den BFH bindend gemäß § 118 Abs. 2 FGO – festgestellt, dass der Sohn über ausreichende Mittel verfügt habe. Damit sei auch die zweite Alternative des § 74 Abs. 1 Satz 3 EStG a.F. (jetzt: § 74 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 EStG) nicht erfüllt, weil diese eine bestehende, lediglich wegen fehlender Leistungsfähigkeit nicht erfüllte Unterhaltspflicht voraussetze (vgl. BFH, Urt. v. 16.04.2002 - VIII R 50/01 Rn. 11 - BStBl II 2002, 575; FG Düsseldorf, Urt. v. 07.04.2016 - 16 K 1697/15 Kg Rn. 17 - FamRZ 2016, 1893).
Eine analoge Anwendung des § 74 Abs. 1 EStG sei nach Auffassung des III. Senats des BFH ebenfalls ausgeschlossen. Es fehle an einer planwidrigen Regelungslücke. Für eine zulässige Analogie sei erforderlich, dass die gesetzliche Regelung unvollständig und ergänzungsbedürftig sei, gemessen an Sinn und Zweck der Norm (vgl. BFH, Urt. v. 26.09.2023 - IX R 19/21 Rn. 32 - BStBl II 2024, 43; BFH, Urt. v. 01.09.2021 - III R 18/21 Rn. 13 - BStBl II 2022, 117). Darüber hinaus verlange die Rechtsprechung die Feststellung, dass der Gesetzgeber den betroffenen Fall versehentlich nicht geregelt habe. Dies sei hier nicht gegeben (vgl. BFH, Urt. v. 28.10.2020 - X R 29/18 Rn. 34 - BStBl II 2021, 675; Anm. Nöcker, jurisPR-SteuerR 42/2021 Anm. 3; BFH, Urt. v. 04.09.2024 - I R 12/22 Rn. 16 - BFH/NV 2025, 226). Ferner müsse eine vergleichbare Interessenlage zwischen geregeltem und ungeregeltem Sachverhalt bestehen (vgl. BFH, Urt. v. 11.02.2015 - X R 36/11 Rn. 68 - BStBl II 2015, 545, Anm. P. Fischer, jurisPR-SteuerR 26/2015 Anm. 2). Es dürfe nicht dazu kommen, dass Gerichte durch eine Analogie ihre eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzten (vgl. BVerfG, Beschl. v. 28.11.2023 - 2 BvL 8/13 Rn. 130 - BVerfGE 168, 1 „Beteiligungsidentische Schwesterpersonengesellschaften“, Anm. Jachmann-Michel, jurisPR-SteuerR 16/2024 Anm. 2). Indes ergäben sich auch aus den Gesetzesmaterialien zu § 74 EStG (vgl. BT-Drs. 17/5125, S. 42 und 47) keine Anhaltspunkte für eine beabsichtigte Einbeziehung nicht bedürftiger Kinder. Der Gesetzgeber habe sich bewusst dagegen entschieden, eine § 48 Abs. 2 SGB I entsprechende Regelung in § 74 EStG aufzunehmen.
§ 74 Abs. 1 EStG sei auch gemessen an seinem Zweck nicht ergänzungsbedürftig. Denn der gesetzliche Regelfall bleibe die Auszahlung des Kindergeldes an den Kindergeldberechtigten; eine Abzweigung sei die Ausnahme und durch den Zweck der Existenzsicherung des Kindes gerechtfertigt. Sei das Existenzminimum – wie im Streitfall – durch eigene Einkünfte und Bezüge des Kindes bereits gedeckt, trete der Sicherungszweck zurück. Es bestehe dann kein Anlass für eine Durchbrechung der allgemeinen Auszahlungsregel.
Zudem verfolge das Kindergeld nach § 31 Satz 2 EStG auch den Zweck der Familienförderung, so dass es in solchen Fällen beim Anspruchsberechtigten verbleiben könne, um andere elternbezogene Kosten zu decken, etwa im Zusammenhang mit Umgang, Geschenken oder Besuchsfahrten (BGH, Urt. v. 17.01.2007 - XII ZR 166/04 Rn. 18 - NJW 2007, 1747).
In systematischer Hinsicht betont der III. Senat des BFH, dass es dem gesetzgeberischen Willen nicht widerspreche, das Kindergeld bei nicht unterhaltsbedürftigen Kindern beim Kindergeldberechtigten zu belassen. Dies werde auch durch sozialrechtliche Regelungen bestätigt: Im Sozialrecht sei das Kindergeld als Einkommen des Kindergeldberechtigten zu behandeln, soweit es nicht zur Deckung des Kindesbedarfs erforderlich sei (§ 11 Abs. 1 Satz 4 SGB II, § 82 Abs. 1 Satz 3 SGB XII, § 94 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII, vgl. BSG, Urt. v. 14.06.2018 - B 14 AS 37/17 R - BSGE 126, 70, Anm. Schürmann, jurisPR-FamR 25/2018 Anm. 2).
Auch im Zivilrecht werde das Kindergeld in vergleichbarer Weise zugeordnet: Es sei Einkommen des Bezugsempfängers, soweit es nicht zur Sicherung des Existenzminimums des Kindes benötigt werde. Ein Anspruch auf Auskehrung des Kindergeldes werde zivilrechtlich teilweise verneint, wenn das Kind nicht bedürftig sei (vgl. OLG Braunschweig, Beschl. v. 27.04.2023 - 1 UF 13/23 - NJW 2023, 3026; Anm. Schürmann, jurisPR-FamR 17/2023 Anm. 3; a.A. OLG Stuttgart, Beschl. v. 20.01.2017 - 17 UF 193/16 - FamRZ 2017, 709, Anm. Schürmann, jurisPR-FamR 12/2017 Anm. 1; BGH, Beschl. v. 14.12.2016 - XII ZB 207/15 Rn. 7 ff. - NJW 2017, 962).
Wenn der Bedarf durch eigenes Einkommen gedeckt sei, bestehe nach § 1612b Abs. 1 BGB keine Veranlassung, das Kindergeld für den Bedarf des Kindes einzusetzen (OLG Braunschweig, Beschl. v. 27.04.2023 - 1 UF 13/23 Rn. 21 - NJW 2023, 3026). Da das FG seiner Entscheidung eine abweichende Rechtsauffassung zugrunde gelegt und die Abzweigungsentscheidung der Familienkasse deshalb zu Unrecht für rechtmäßig befunden habe, hätten das Urteil und der angefochtene Bescheid aufgehoben werden müssen.


C.
Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung des BFH steht im Kontext eines systematisch engen Verständnisses der Abzweigungsvorschrift des § 74 EStG. Sie bestätigt den Grundsatz, dass das Kindergeld dem Kindergeldberechtigten zu belassen ist, solange keine konkrete unterhaltsrechtliche Bedürftigkeit des Kindes besteht. Damit knüpft der BFH an die allgemein gültige Auslegungsregel an, wonach eine richterliche Auslegung über den Wortlaut hinaus nur dann zulässig ist, wenn eine planwidrige Gesetzeslücke zweifelsfrei festgestellt werden kann.
Einzuordnen ist die Entscheidung vor dem Hintergrund der durch das Steuervereinfachungsgesetz v. 01.11.2011 (BGBl I 2011, 2131) abgeschafften Grenzbetragsregelung (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG a.F.), wonach der Anspruch auf Kindergeld für volljährige Kinder schon dem Grunde nach die Bedürftigkeit des volljährigen Kindes voraussetzte. Mit der Abschaffung dieser Regelung hat der Gesetzgeber keine Anpassung des § 74 EStG vorgenommen, obwohl er in anderen Bereichen notwendige Folgeänderungen vornahm (z.B. § 33a Abs. 2 Satz 2 EStG und § 70 Abs. 4 EStG; vgl. BT-Drs. 17/5125, S. 42 und 47). Der Rezensionsentscheidung liegt der Rechtsgedanke zugrunde, dass diese gesetzgeberische Entscheidung zu respektieren ist und nicht durch eine analoge Anwendung der Abzweigungsvorschrift unterlaufen werden darf.
Zugleich greift die Entscheidung – wie unter B. gezeigt – über den steuerrechtlichen Rahmen hinaus auf sozial- und zivilrechtliche Wertungen zurück, wonach das Kindergeld dem Empfänger verbleibt, sofern keine Verwendung zur Deckung des Existenzminimums des Kindes erforderlich ist. Sie steht damit im Einklang mit einem kohärenten Verständnis von Bedarf und Anspruchszuordnung im Leistungs- und Unterhaltsrecht.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung verdeutlicht, dass auch § 74 Abs. 1 Satz 3 Alt. 2 EStG a.F. (jetzt: § 74 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 EStG) eine rechtlich bestehende Unterhaltspflicht voraussetzt, die lediglich mangels Leistungsfähigkeit nicht vollständig erfüllt werden kann. Fehlt es – wie im Streitfall – bereits an der Bedürftigkeit des Kindes, liegt keine solche Pflicht vor. Die Vorschrift greift daher nicht, wenn das Kind seinen Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln decken kann. Eine Abzweigung kommt weder bei faktischer Bedürftigkeit ohne rechtliche Unterhaltspflicht noch bei bloßem Wunsch des Kindes nach direkter Auszahlung in Betracht.
An dieser Rechtslage hat auch die Reform des § 74 EStG durch das JStG 2024 v. 02.12.2024 (BGBl. 2024 I Nr. 387) nichts geändert, durch dessen Art. 3 Nr. 27 die Regelung des § 74 Abs. 1 Satz 2 EStG a.F. aufgehoben wurde und mithin der im Streitfall relevante § 74 Abs. 1 Satz 3 EStG a.F. zu § 74 Abs. 1 Satz 2 EStG wurde. Die Aufhebung des § 74 Abs. 1 Satz 2 EStG a.F. ist eine redaktionelle Folge des ebenfalls im JStG 2024 normierten Wegfalls des „Zählkindvorteils“ durch die ab 01.01.2023 einheitliche Kindergeldhöhe. Damit entfiel auch die bisher erforderliche Verteilung eines variablen Höchstbetrags nach § 76 EStG auf mehrere Kinder. Nunmehr kann für jedes Kind ein einheitlicher Abzweigungsbetrag angesetzt werden (vgl. BT-Drs. 20/12780, S. 134).



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